Junge Rebellen kämpfen nicht nur gegen Russen
Von Florian Hassel (Grosny)
Eine Reportage aus der Frankfurter Rundschau
Die Kameraführung ist schwankend, die Tonqualität bescheiden. Und obendrein ist der Streifen, den tschetschenische Rebellen im dunklen Hinterhof einer alten Fabrik von Grosny vorführen, das Dokument eines Misserfolgs: des gescheiterten Versuchs, am helllichten Tag einen russischen Truppentransporter in die Luft zu jagen. "26.9.00, 15:02 Uhr" zeigt das Display der kleinen Digitalkamera, mit der die Rebellen ihre Attentate gegen die russischen Soldaten festhalten. Zu sehen ist ein an der belebten Ringstraße von Grosny abgestellter weißer Schiguli-Pkw, in dessen Passagierraum, so sagen die Rebellen, eine zwei Meter lange 500-Kilo-Flugzeugbombe auf ihre Fernzündung wartet. Doch nichts geschieht. "Es waren zu viele Zivilisten in der Nähe", erklärt einer der Rebellen. "Und dann haben die Russen die Bombe leider bei einer Routinekontrolle entdeckt."
Nächste Aufnahme, nächstes Attentat: Diesmal haben die Rebellen eine 30-Kilo-Granate am Straßenrand versteckt. Als der russische Mannschaftswagen vorbeifährt, explodiert der Sprengsatz mit einem hellen Blitz. Dann flüchten die Rebellen. "Leider können wir fast nie lange genug bleiben, um unsere Erfolge festzuhalten", bedauert der 25 Jahre alte Magomed. Zwölf russische Soldaten seien bei dem Attentat ums Leben gekommen, hätten Anwohner später berichtet. "Die Russen schleppen die ausgebrannten Transporter schnell ab und vertuschen ihre Niederlagen", sagt ein 40 Jahre alter Rebellenführer mit dem Kriegsnamen Abdul-Bari. Ein ums andere Mal haben Moskaus Generale den endgültigen Sieg über die Rebellen oder Bojewiki verkündet. Doch die führen einen hartnäckigen Partisanenkrieg.
Allein in der vergangenen Woche starben nach Moskauer Angaben zwanzig Soldaten, 48 wurden verletzt. Offiziell sind insgesamt 2472 russische Soldaten gestorben, Schätzungen über die wahren Verluste gehen vom Zwei- bis Dreifachen aus. Ein Ende ist nicht in Sicht. Grosny, das ist keine Stadt mehr, sondern nur noch ihr Skelett. Mühsam sich aufrecht haltende Häusergerippe, von Bombenkratern durchzogene Straßen und die schwer bewachten Kontrollpunkte der Russen: mit Betonklötzen, herausgerissenen Wasserleitungen, Sandsäcken und Schießscharten gesicherte Mini-Festungen, von denen es Dutzende in Grosny und Hunderte im ganzen Land gibt. Nicht einmal eine Maus, so sollte man denken, kann die Stadt ohne Zustimmung der Russen betreten oder verlassen. Tatsächlich aber schlüpfen die Rebellen ohne eine einzige Kontrolle in die Stadt und wieder hinaus, wie sie dem FR-Reporter bei einer Autofahrt über verwinkelte Schleichwege vorführen.
In ganzen Stadtteilen ist die russische Herrschaft eher Schein als Sein. Als Rebellen den Reporter zum Treffen mit einem Anführer im "4. Mikrorayon" bringen und am aus schiefen Bretterbuden bestehenden Markt vorbeikommen, sind russische Soldaten vollauf damit beschäftigt, den Treibstoff ihres Panzers und eines Mannschaftswagens bei der Bevölkerung gegen Geld, Wodka und Rauschgift zu verscherbeln. In einem Café mit roten Samtvorhängen und dunklen Separees erklärt Rebellenführer Abdul-Bari seine Sicht des andauernden Kriegs. In einem früheren Leben war der 40-Jährige Wirtschaftswissenschaftler; seit dem ersten Tschetschenienkrieg "habe ich mich auf Artillerie spezialisiert". Nachdem die Russen Grosny Anfang Februar eroberten, "haben wir uns einige Monate erholt und neues Geld aufgetrieben", sagt der Mann mit den blauen Augen und einem milden Lächeln im vollen Gesicht. "Dann sind wir mit der friedlichen Bevölkerung zurückgekommen und haben den Kampf wieder aufgenommen", mit ferngesteuerten Minen und Überraschungsangriffen auf russische Kontrollpunkte. "Wir beißen den russischen Bären an der Schulter, wo er mit der Zunge schwer hinkommt", sagt Abdul-Bari, der ein Team von zehn Rebellen befehligt und dem Oberkommando des berühmt-berüchtigten Kommandeurs Chattab gehorcht. Doch auch die Gegenwehr des Bären bleibt nicht wirkungslos. Baudin Bakujew, ein prominenter Kommandeur und nach russischen Angaben ebenso notorischer Geiselnehmer, wird am 9. Oktober von den Russen gestellt und erschossen. Nach dem Ende der großen Kämpfe haben die Bojewiki die Taktik umgestellt: Der Rebell des Partisanenkriegs zieht nicht durch Tschetschenien, sondern hat einen festen Wohnsitz und lebt meist bei seiner Familie.
Dennoch "arbeiten die russischen Geheimdienste sehr stark", gibt Abdul-Bari zu. "Nachts fahren mehrere Autos des FSB (des Inlandsgeheimdienstes) vor und wissen nicht nur, in welchem Haus, sondern sogar, in welchem Zimmer unser Mann schläft. Leider gibt es sehr viele Verräter." Auch die Attentate seien schwieriger geworden, sagen Abdul-Bari und ein anderer Anführer, den die FR in einem dunklen Hinterhof Grosnys trifft. "Die Russen haben gepanzerte Lastwagen; Offiziere fahren in Bussen und zivilen Autos", berichtet der 27-Jährige mit spärlichem rotem Bart, Baseballkappe und dem Kriegsnamen Abdullah Ibn-Hussein. Straßensperren und Minenkontrollen seien verstärkt worden. "Deswegen tarnen wir unsere Bomben jetzt als Kühlschrank oder Betonblock", sagt Abdul-Bari. Dann führen seine Untergebenen ein Video vor, auf dem sie roten Plastiksprengstoff an eine Granate binden und sie mit Beton ummanteln. Bis zu fünfzehn unabhängig voneinander operierende Gruppen gebe es in Grosny, sagt der 26 Jahre alte Ruslan; in anderen Städten und Dörfern Tschetscheniens seien ähnliche Gruppen aktiv. "4000 unserer Kämpfer sind in den Städten und Dörfern, noch einmal 4000 in den Bergen", behauptet Ruslan.
Ein krasser Widerspruch zu den Angaben des Moskauer Vize-Generalstabschef Walerij Manilow: Der nannte am 5. Oktober die Zahl von 2000 Rebellen. Nicht nur die Rebellen selbst sprechen sich hohe Kampfkraft zu. "Allein in den Bergregionen Wedeno und Noschaj-Jurt haben sie 3000 Mann", sagt der 42 Jahre alte Raibek Towsajew, offizieller Berater des Chefs der russischen Polizei in Tschetschenien. Im vergangenen Winter half Towsajew, der mit blauen Augen, schwarzem Vollbart und einer Nase mit ausladenden Flügeln an einen gedrungenen Bären erinnert, den Russen als Kommandeur eines knapp 700 Mann starken tschetschenischen Bataillons, den vorläufigen Sieg über die Rebellen zu erringen. Gerade erst hat sich Towsajew, der im Tarnanzug und mit zehn MP-Magazinen über der Brust allzeit kampfbereit ist, von einem Anschlag der Rebellen erholt: Die wollten ihn Ende Juli mit zwei Kugeln töten. Dass die Rebellen mit Minen und einzelnen Attacken nur einen Krieg auf Sparflamme führen, statt zu den vom tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow mehrfach angekündigten Großangriffen überzugehen, hat nach Ansicht Towsajews einen einfachen Grund: "Das Volk ist den Krieg leid und sagt den Rebellen: Wenn ihr die Russen nicht besiegen könnt, legt die Waffen nieder. Wenn sie jetzt den Krieg im großen Maßstab wieder aufnehmen, verlieren sie noch die letzte Unterstützung.
"Dass sie mit ihren Minenattentaten und Überfällen weitere "Säuberungen" russischer Spezialeinheiten und Bombardements provozieren, die vor allem die Zivilbevölkerung treffen, ist den Rebellen klar. "Der Völkermord gegen uns läuft, ob wir kämpfen oder nicht", rechtfertigt sich Magomed. "Wenn sich die russische Macht festigt, werden sie uns noch effektiver töten als bisher." "Ich weiß, dass die Menschen nicht wollen, dass wir Krieg führen", gibt Rebellenführer Abdul-Bari zu. "Aber wir haben nicht das Recht, nicht zu handeln. Für uns gibt es keine Verfassung außer der Scharia, kein Ziel außer dem Paradies." Wie die ihm ergebenen jüngeren Rebellen kämpft Abdul-Bari längst nicht mehr nur gegen die Russen, sondern auch gegen einen Großteil seiner Landsleute: Die sind nicht nur gegen eine Fortsetzung des Kriegs, sondern auch gegen die Scharia - ein dem Kaukasus fremdes, strenges islamisches Regime. Doch eben dies ist der Traum der jungen Rebellen, die fast alle in den Zwanzigern sind.
Beim Treffen trinken sie nur Orangensaft, in ihren Autos hören sie Kassetten mit arabischer Gebetsmusik. "Ich will ein Regime wie in Afghanistan, wo Dieben die Hand abgehackt wird. Dort gibt es keine Drogen und keine Prostitution", sagt Magomed. Seit er nach dem ersten Krieg in einer Moschee von Grosny die von saudi-arabischen und anderen islamischen Missionaren geförderte strenge Auslegung des Islam übernommen hat, sind "mindestens zwanzig meiner Freunde aus der Moschee im Kampf gegen die Russen gestorben". Magomeds Eltern wollen weder den Krieg noch die Scharia, gibt der Rebell zu. "Doch der Wille Allahs steht für mich höher als der meines Vaters. Ich werde bis an mein Ende für die Scharia kämpfen. Selbst wenn ich dafür Mitglieder meiner Familie töten muss." Noch allerdings sei der tschetschenische Bruderkampf aufgeschoben. "Erst müssen wir die Heiden aus unserem Land werfen." Morgen in der FR die vierte Tschetschenien-Reportage: In Krankenhäusern und Schulen warten die Schwächsten auf dringend benötigte Hilfe.
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Stand: 01-03-01
Aktueller Bearbeiter: Mehmet Sanlier (1999/2001) Datei: tschetc/reports/rep3.htm |