Reportagen aus Tschetschenien (2):
"Wir bauen, sie klauen"

Das russische Militär plündert die Kaukausrepublik nach Kräften aus

Von Florian Hassel (Winogradnoje)
Eine Reportage aus der Frankfurter Rundschau

Das Dorf nördlich der tschetschenischen Hauptstadt Grosny trägt einen malerischen Namen: Winogradnoje, Weintrauben. Mit sanften Auen, rastenden Vögeln auf den Sandbänken des breiten Terek-Flusses und stattlichen Backsteinhäusern ist das Dorf ein scheinbar idyllisches Plätzchen. Doch statt Weinreben umgeben Erdölquellen das Dorf. Seit über 100 Jahren ist die Umgebung von Grosny ein Zentrum der Ölindustrie.

Jetzt könnte das schwarze Gold helfen, das kriegszerstörte Land wieder aufzubauen. Stattdessen wird die Ölindustrie unter tatkräftiger Mithilfe des russischen Militärs sabotiert und ausgeplündert. Die Wachmannschaft der Ölquellen von Winogradnoje staunte nicht schlecht, als am 20. September um 17 Uhr aus südlicher Richtung drei russische Militärhubschrauber angeflogen kamen: "Es waren zwei Krokodil-Kampfhubschrauber und ein mit Raketen ausgerüsteter Transporthubschrauber", erzählt Wachsoldat Achmed in der zugigen Baracke, die der neunköpfigen Wachmannschaft als Unterschlupf dient. "Etwa fünf Minuten drehten die Hubschrauber Kreise über unseren Köpfen und den Ölquellen Nr. 21 und 23. Dann schossen sie zwei oder drei Raketen auf Nr. 23, die sofort zu brennen begann", berichtet er.

"Als in Nr. 21 das Öl nach dem Beschuss nicht sofort zündete, setzte der Transporthubschrauber einen Soldaten ab. Er ging zur Quelle, offenbar, um einen Sprengsatz zu legen. Nach drei, vier Minuten kam er zurück, und der Hubschrauber hob ab. Zwei Minuten später gab es eine große Explosion, und die Quelle stand in Flammen." Danach flogen die Hubschrauber davon, in Richtung des russischen Hauptquartiers in Chankala, östlich von Grosny.

Der Sabotageakt ist keine Fantasie betrunkener Wachsoldaten. In einem der Frankfurter Rundschau vorliegenden Brief vom 22. September an den russischen Militärkommandanten Iwan Babitschew (mit "Aktenzeichen 865") stellt der Vize-Chef der prorussischen Verwaltung Tschetscheniens fest, außer der Wachmannschaft seien Mitarbeiter der Energiegesellschaft TEK, der Bürgermeister von Winogradnoje und die Soldaten des nahen russischen Kontrollpunkts "Zeugen des geschilderten Vorfalls geworden". Und weiter: "Auf gleiche Weise wurde am 19. September Quelle Nr. 4 ,Petropawlowskaja' gesprengt." Nach Aussage von Wachmann Achmed haben russische Hubschrauber bereits "am 15. oder 16. September die Ölquelle Ilinowka in Brand geschossen". Und in Dschalka bei Gudermes beschreibt der 20 Jahre alte Scherip D. der FR, wie zwei Kampfhubschrauber Mitte September eine Ölquelle mit Raketen und MG-Beschuss in Flammen aufgehen ließen.

Brennende Ölquellen sind nichts Neues. Als russische Truppen Anfang Oktober 1999 in Tschetschenien einmarschierten, kündigten einige Rebellen an, die Ölquellen lieber anzuzünden, als sie unversehrt den Russen in die Hände fallen zu lassen. Einen Monat nach Kriegsbeginn brannten 23 Quellen; schon damals behaupteten Tschetschenen, den lautstarken Rebellenankündigungen zum Trotz seien die Russen für die Sabotage verantwortlich. Nach dem Ende der großen Kriegshandlungen wurden 14 Brände gelöscht. Heute stehen rings um Grosny wieder mindestens 34 Ölquellen in Flammen und verdunkeln den Himmel. Täglich verbrennen 8000 Tonnen Öl oder laufen in den Terek-Fluss und andere empfindliche Ökosysteme.

Doch was ist das Motiv für die Sabotage? Eine Version lautet, dass Armee oder Geheimdienst die Schuld den Rebellen in die Schuhe schieben und den Krieg verlängern will. Eine andere Version sieht Neid als Grund: Lieber eine Ölquelle sprengen, als sie der Konkurrenz zu überlassen. Seit Monaten tobt der Kampf um die Kontrolle über Tschetscheniens Öl zwischen der russischen Ölgesellschaft Rosneft und dem tschetschenischen Verwaltungschef Achmed Kadyrow und dessen Firma Grosneft. Dazu kommen kleinere Ölbarone und mit ihnen verbandelte russische Offiziere. Wer welche Quellen warum in Brand schießt, könnte nur eine öffentliche Untersuchung klären. Dem Chaos zum Trotz florieren illegale Ölförderung und Schmuggel. Theoretisch gilt in ganz Tschetschenien von neun Uhr abends bis sieben Uhr morgens die Sperrstunde. Die Besatzungen von hunderten Kontrollpunkten dürfen ohne Warnung auf jeden schießen, der zu dieser Zeit unterwegs ist.

In der Praxis aber sind Straßen und Kontrollpunkte höchst belebt. "Von fast allen Ölvorkommen der Republik fahren Autokolonnen, die gestohlenes Öl (in die Nachbarrepubliken, Red.) nach Inguschetien, Dagestan und nach Nordossetien und Stawropol bringen", wird in einem Bericht "Über die Lage der Dinge im Energiebereich zum 7. September" an Militärkommandant Babitschew festgestellt. Als am 31. Juli Mitarbeiter der Ölgesellschaft "Prawobereschnoje" Diebstahl aus ihrer Quelle Nr. 63 ,Braguny' verhindern wollten, "erlaubte es der Beschuss durch die Militärs den Mitarbeitern nicht, sich den Dieben zu nähern, die in aller Ruhe die Tankwagen beluden und wegfuhren", stellt der Bericht fest. Die Besitzer oder Fahrer der Tanker zahlen an den Kontrollpunkten ein Schmiergeld - oder einigen sich mit höheren Offizieren.

Der Militärkommandant des Schelkowskij-Bezirks und sein Kollege General Alexander Stoljarow aus dem Gudermes-Bezirk mussten vor kurzem, angeblich wegen Beteiligung an den illegalen Ölgeschäften, ihre Posten verlassen. Stoljarow soll Passierscheine ausgestellt haben, der Tankerflotten unbehelligt von Kontrollen Schmuggel in die Nachbarrepubliken ermöglichte und damit mehrere hunderttausend Dollar eingenommen haben. Der russische Militärstaatsanwalt hat Ermittlungen gegen ihn eingeleitet. Die Militärs stehlen in Zusammenarbeit mit tschetschenischen Gangstern selbst das, was andernorts als niet- und nagelfest gilt. Lastwagenweise wird Ausrüstung und Technik aus Fabriken und Häusern entwendet, die den Krieg überstanden haben. Eine Tonne Altmetall kostet in Grosny 20 Dollar, nach dem Schmuggel zum russischen Hafen Noworossijsk schon 90. Aluminium gar bringt 700 bis 800 Dollar.

Der Ölgesellschaft Grosneft stahlen Diebe "in Begleitung von Militärs mehr als 10 000 Tonnen Rohre", konstatiert der Bericht an den Militärkommandanten. Ein Lichtblick in Grosnys Ruinenlandschaft ist das Hauptquartier der Stromgesellschaft Grosenergo. Mit seinem brandneuen Ziegeldach, dem neuen Marmorfußboden und dem frischen gelben Anstrich ist es nicht nur die erste wieder aufgebaute Ruine, sondern auch "ein politisches Signal", wie Vize-Direktor Sawalu Imajew sagt. Mit dem Aufbau des 12 500 Kilometer langen tschetschenischen Stromnetzes indes geht es schleppend voran. Das liegt zum einen an den nächtlichen Bombardements der russischen Artillerie, die statt Rebellenstellungen oft zivile Häuser treffen. Oder Stromleitungen und Transformatoren.

Erst am Vorabend hat die Artillerie eine Leitung im Bezirk Urus-Martan zerlegt; mindestens vier Dörfer sind ohne Strom. "Ich habe einmal einen französischen Film gesehen, in dem der Pilot immer die eigenen Positionen bombardiert", sagt Imaje, "so ist es auch bei uns." Ein anderes Problem mit den Militärs beschreibt der Vize-Direktor wie folgt: "Wir bauen, sie klauen." Und das im großen Maßstab. "Eine Leitung von Grosny nach Argun haben wir bereits viermal gelegt; viermal ist sie nachts gestohlen worden." Auch die Transformatoren zum Stückpreis von 40 000 Rubel, umgerechnet 3300 Mark, werden regelmäßig abmontiert. Said-Hassan Idrassow, der als Direktor der "Östlichen Stromnetze" von Gudermes aus die Hälfte Tschetscheniens mit Strom versorgen soll, verliert "jeden Monat 60 Tonnen Kabel" - bei einem Tonnenpreis von bis zu 2000 Dollar ein schönes Geschäft für die Diebe. Ende August zum Beispiel sperrte das Militär den Zugang zu einer Stromleitung beim Dorf Schelkowskaja wegen einer "Spezialoperation". "Als am 19. September der Zugang wieder geöffnet wurde, waren 7,5 Kilometer Kabel gestohlen. Das entspricht sechs Lastwagenladungen", sagt Idrassow, ein Mann mit schwarzem Hut und langen Falten im schmalen Gesicht.

Als der Direktor einmal einem Militär-Lkw mit gestohlenem Metall folgen wollte, hielt ihn der russische Wachposten an: "Wohin willst du alter Scheißkerl, ich schieß Dich nieder!" Und Idrassow sah ohnmächtig zu, wie der Lastwagen in die Nacht entschwand. Allein für den tschetschenischen Energiesektor betrug der Schaden durch die Diebstähle "von Januar bis Juli 2000 1,9 Milliarden Dollar", heißt es in dem Bericht an Kommandant Babitschew. "Die Ausplünderung der Republik ist in vollem Gange." Grosnys Bürgermeister Supian Mochtschajew geht in einem der FR vorliegenden Brief vom 16. August an Generalleutnant Wladimir Bokowikow, den Vize-Generalgouverneur von Präsident Putin, noch weiter: "Wenn wir nicht sofort zusammen die Frage der Rettung der Industrie lösen, stehen Stadt und Republik vor der völligen Verheerung."


Quellennachweis

http://www.fr-aktuell.de



 

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Stand: 01-03-01
Aktueller Bearbeiter: Mehmet Sanlier (1999/2001)
Datei: tschetc/reports/rep2.htm