Reportagen aus Tschetschenien (1):
Der Krieg des Wladimir Putin

Russische Truppen begehen Kriegsverbrechen und werden von Moskau gedeckt

Von Florian Hassel (Grosny)
Eine Reportage aus der Frankfurter Rundschau

Es ist der späte Morgen des 25. September, als Leila Nurgalijewa ihre Wohnung verlässt, um ihrer Familie das Überleben zu sichern. Vor zwei Wochen erst ist die junge Familie ins vom Krieg zerstörte Grosny zurückgekehrt: die 25 Jahre alte Leila und ihr 28-jähriger Mann Achmed, die zweijährige Tochter Chawa und der erst zwei Monate alte Bensanpur. Die Familie hat Glück in Unglück:

Ihr Mietshaus an der Mansurowa-Straße im Stadtteil Tschernoretsche hat zwar den einen oder anderen Granattreffer und jede Menge Kugeln abbekommen, doch ist es immerhin bewohnbar. Gewiss fehlen Strom und Wasser, doch gibt es immerhin Gas. Zwar finden die Männer keine Arbeit, doch werden in der zerstörten Stadt wieder Renten und Kindergeld ausgezahlt. Also nimmt Leila den kleinen Bensanpur auf den Arm und macht sich auf, um bei der Bezirksverwaltung das Kindergeld zu beantragen. Während Leila auf den Bus wartet, führen russische Soldaten südlich von Grosny eine Satschistka ("Säuberung") durch: eigentlich eine Suche nach Waffen und Rebellen.

Tatsächlich nutzen viele Soldaten die "Säuberungen" zu Plünderungen, Morden und willkürlichen Verhaftungen. Als die Soldaten zu ihrer Basis zurückkehren wollen, zünden Rebellen eine ferngesteuerte Mine. Drei Soldaten werden schwer verletzt. Mit Vollgas rasen zwei Mannschaftswagen Richtung Grosny, um die verletzten Kameraden ins Militärhospital in Chankala zu bringen - und es den Tschetschenen auf ihrem Weg gleich heimzuzahlen. Leila hat den Bus bestiegen. Kaum ist er außer Sichtweite, sieht die Marktfrau Ased Schamschukajewa die beiden Mannschaftswagen heranrasen. "Auf ihnen saßen fünfzehn bis zwanzig Soldaten. Zwei schossen mit ihren Maschinenpistolen auf uns, trafen aber niemanden." Busfahrer Loma O. erblickt die Schützenpanzer im Rückspiegel, als ihn auch schon die erste Kugel trifft. "Runter auf den Boden", schreit der Fahrer, "sie schießen auf uns." Mindestens zwei Schützen nehmen den Bus systematisch unter Feuer: Einer beschießt ringsum den unteren Teil des Busses, der andere zielt auf die obere Hälfte. Mindestens fünf Passagiere werden getroffen, einem zwanzig Jahre alten Mann wird ein Finger abgeschossen. Der zwei Monate alte Bensanpur bleibt unverletzt, weil sich seine Mutter schützend über ihn wirft. Leila Nurgalijewa selbst wird tödlich getroffen. Ihr Mann Achmed, von Nachbarn benachrichtigt, begreift erst, als er die Plane von der Leiche zieht, dass Leila gestorben ist.

Wenige Minuten später ist ein Team aus tschetschenischen Polizisten und Staatsanwälten am Tatort. Generalleutnant Iwan Babitschew, der russische Militärkommandant Tschetscheniens, streitet dennoch alles ab. "Heute morgen habe ich die Vorträge aller Militärkommandanten Grosnys und der Vorstädte gehört. Es gab keinerlei solche Zwischenfälle", sagt Babitschew am 26. September der russischen Agentur Interfax. Entsprechende Mitteilungen seien "eine pure Lüge" und "vorteilhaft für die Bojewiki", die tschetschenischen Rebellen. Doch wie die von der Frankfurter Rundschau befragten Zeugen bestätigt auch Grosnys Vize-Bürgermeister Ramsan Schaptukajew den Mord. Die Verwaltung weiß sogar, wer für den Tod von Leila Nurgalijewa mutmaßlich verantwortlich ist: die "Weißen Wölfe", eine aus Saratow stammende, beim Dorf Alchan-Kala stationierte Einheit der Truppen des Innenministeriums (Identifikationsnummer 7463), genauer: die Besatzung der Schützenpanzer 702 und 713. Ein internes Dokument, das der FR vorliegt, listet für "Ermittlung 12 185" 18 Mann Besatzung samt ihren Waffennummern auf. Mit diesen Nummern und ballistischen Tests könnte man die Schuldigen schnell identifizieren. "Doch die Russen lassen den Staatsanwalt weder die Tests noch Verhöre durchführen", sagt Schaptukajew. "In neun Zehnteln ähnlicher Fälle bringen wir nicht einmal die Namen in Erfahrung. Gelingt es doch einmal, werden die verdächtigen Soldaten versteckt und Waffen ausgetauscht."

Ein Jahr nach dem Einmarsch der russischen Truppen regieren in Tschetschenien nicht Recht und Gesetz, sondern "Bespredel": wörtlich "ohne Grenze", bedeutet der dem Gefängnisjargon entstammende, jedem Russen geläufige Begriff eine durch keinerlei Normen im Zaum gehaltene Gesetzlosigkeit, die jedes Verbrechen zulässt. Neben den Interviews belegen ein Dutzend dieser Zeitung vorliegende Dokumente aus der prorussischen, vom Kreml eingesetzten "Zeitweiligen Verwaltung" Tschetscheniens, dass die gesamte russische Führung einschließlich Präsident Wladimir Putins über die Verbrechen ihrer Truppen bestens im Bilde ist und sie systematisch vertuscht: Die Berichte gehen an Militärkommandant Babitschew und den Generalstaatsanwalt, den unmittelbar Putin berichtenden Generalgouverneur Wladimir Kasanzew und an Putin selbst.

In einem Bericht vom 19. August etwa berichtet Scharip Alichadschijew, Verwaltungschef der Schali-Region, wie die Russen willkürlich auf Zivilisten schießen. Am Abend des 13. August feuert eine vorbeifahrende russische Kolonne mit Maschinengewehren auf Fußballspieler im Dorf Mesker-Jurt. Am 19. August zielt eine im Kindergarten von Tschiri-Jurt untergebrachte SOBR-Polizeieinheit aus Sachalinsk mit Granatwerfern und Maschinengewehren auf Wohnhäuser, wobei ein Mensch stirbt. Opfer der Russen liegen in jedem Krankenhaus Tschetscheniens. Den 41 Jahre alten Arbi I. schossen russische Soldaten am Abend des 13. September in die Hüfte, als er im Hof seines Hauses in Grosny eine Tasse Tee trank. "Nachts sind die Russen betrunken; dann schießen sie zur Unterhaltung auf uns." Viele russische Soldaten, von ihrer eigenen Führung oft betrogen und in sinnlosen Kämpfen verheizt, fühlen sich nicht als Befreier der Bürger ihres eigenen Lands, sondern als auf sich gestellte Besetzer in feindlichem Territorium. "Die Tschetschenen haben 450 Jahre gegen uns gekämpft und werden es auch die nächsten 450 Jahre tun", sagt der Vertragssoldat Ilja P., der gegen hohen Sold bereit war, in Tschetschenien zu kämpfen. Auch Zivilisten sind potenzielle Feinde - und oft genug Freiwild. Vor allem die mit Drei-Monats-Verträgen dienenden Kontraktniki - Veteranen des Afghanistan- oder ersten Tschetschenienkriegs oder Ex-Sträflinge - wissen, dass sie in Tschetschenien ungestraft erpressen, plündern und morden dürfen. An vielen der Kontrollpunkte werden Zivilisten nur gegen Schmiergelder durchgelassen, ausgeraubt, ermordet. Oft verhaften die Russen tschetschenische Männer, damit ihre Verwandten sie freikaufen - nicht nur mit Geld, sondern auch mit Maschinenpistolen. "Allein in meinem Dorf haben sich sieben Männer mit Maschinenpistolen aus der russischen Haft freigekauft", sagt der 28 Jahre alte Timur Meschidow aus dem Bergdorf Bugaroj. "Ihren Vorgesetzten sagen die Russen, sie hätten ein Waffenlager der Rebellen ausgehoben, und bekommen eine Prämie", berichtet ein tschetschenischer Polizist.

Wer freigekauft wird, hat Glück im Unglück gehabt. In Alchan-Jurt, einem Bauerndorf mit einfachen Ziegelsteinhäusern und vom Herbstregen aufgeweichten schlammigen Wegen südwestlich von Grosny, werden der zwanzig Jahre alte Chamsad Dutajew und seine Altersgenossen Lom-Ali Paschajew, Adlan Dukschejew und Idriss Israilow seit einer "Säuberung" durch das 245. Regiment Mitte August ebenso vermisst wie eine lange Reihe junger Männer vor ihnen. Nach Aussage des Parlamentariers Dmitrij Rogosin sind mindestens 18 000 Tschetschenen verschwunden, die meisten junge Männer. Viele von ihnen wurden ermordet. Schamil Beno, Moskau-Vertreter des tschetschenischen Verwaltungschefs Achmed Kadyrow, zeigt eine rote Mappe mit einer 38 Seiten langen Liste. "Dies sind die Namen von rund 600 verschwundenen Tschetschenen", sagt Beno. "Und das sind nur die Mitteilungen von Leuten, die sich an uns wenden. Die meisten halten es für sinnlos oder kommen nicht durch die Kontrollposten." Im Bauerndorf Dschalka sind binnen zehn Tagen im September "neun junge Männer aus der friedlichen Bevölkerung festgenommen worden", stellt ein Bericht der Republik-Verwaltung in Gudermes vom 21. September fest. Kalbek Paschajew und Wacha Kamilow werden am 8. September in Grosny festgenommen und aufs russische Polizeirevier im Oktjabrskij-Stadtteil gebracht. Acht Tage später werden ihre Leichen auf dem Weg nach Chankala, dem Standort des russischen Hauptquartiers, "halb verbrannt und halb vergraben in den Büschen gefunden", hält der Bericht fest. Kalbek Paschajew ist mit einem Schuss in den Nacken getötet worden, seine Ohren fehlen, die Zähne sind ausgeschlagen, die Nase zerschnitten, die Augen ausgestochen, schildern die Angehörigen. Am 20. September findet ein Suchtrupp des Kommandanten von Gudermes im Wald bei Dschalka die ebenfalls schwer verstümmelten Leichen dreier weiterer Vermisster, unter anderem des am 15. September verschwundenen 22 Jahre alten Machmad Taimaschanow. "Seine Augen waren ausgestochen und die Kopfhaut abgeschnitten", schildert ein weinender Angehöriger. Nüchtern bestätigt der Verwaltungsbericht: "Alle fünf (Aufgefundenen) sind unter Anwendung brutaler Gewalt und dem Beibringen gezielter Kugelwunden an verschiedenen Körperteilen ermordet worden . . .

In den vergangenen Tagen haben sich in praktisch allen Bezirken der Tschetschenischen Republik ähnliche Vorkommnisse ereignet." Die Verwaltung informiert auch den Apparat des Putin-Bevollmächtigten Wiktor Kasanzew über die Morde in Dschalka. Die Beamten in Gudermes wissen auch, dass niemand in der russischen Führung die Kriegsverbrechen ihrer Soldaten aufklären und verfolgen will. "Nicht eines der Rechtsorgane . . . trifft irgendwelche Maßnahmen und nimmt praktisch nicht teil an der Aufklärung solcher Verbrechen und an der Fahndung nach Verschwundenen, die in der Regel tot gefunden oder von ihren Verwandten bei den Föderalen freigekauft werden, ganz zu schweigen von der Vorbeugung und Verhinderung solcher Verbrechen", stellt der Bericht vom 21. September fest. Auch Präsident Wladimir Putin weiß bis ins Detail, was in Tschetschenien vor sich geht - und das nicht nur über die Vorträge und Berichte seiner Untergebenen. In einem Brief an Putin beschreiben 24 Einwohner der Dörfer Schuani, Gordali und Zenteroj ein vom 10. bis 14. Juli dauerndes "Bespredel". Nachdem die Einwohner sich geweigert haben, russischen Soldaten Schnaps und Rauschgift zu geben, eröffnen die am 10. Juli "mit allen Arten von Waffen" das Feuer auf die Dörfer. Schließlich setzen die Russen selbst Kampfhubschrauber und Bomber ein und verminen die Umgebung von Gordali. Fünf Einwohner werden von Minen zerfetzt. "Dies ist innerhalb von fünf Monaten schon die neunte Aktion", schreiben die Dörfler. Für den Fall, dass die russischen Verbrechen ohne Konsequenzen bleiben, wolle "die gesamte männliche Bevölkerung" lieber im Kampf sterben, als "diese Erniedrigung noch länger zu ertragen". Ende September sagt Vize-Militärstaatsanwalt Jurij Birjukow im Parlament, russische Soldaten hätten in Tschetschenien nur sechs Morde und eine Vergewaltigung verübt. Selbst Massenmorde werden von der russischen Führung gedeckt.

Als Truppen der 58. Armee unter dem Oberkommando von General Wladimir Schamanow am 1. Dezember 1999 in Alchan-Jurt einrückten, ermordeten sie mindestens 41 Zivilisten. Auf Alchan-Jurt angesprochen, antwortete Schamanow: "Wagt es nicht, die Soldaten und Offiziere der russischen Armee anzurühren. Sie vollbringen heute eine heilige Tat: Sie verteidigen Russland."

Der damalige Vize-Premier und Tschetschenien-Bevollmächtigte Nikolaj Koschman versprach gleichwohl, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Doch Koschman wurde zurückgepfiffen. Der damalige Militärstaatsanwalt Jurij Djomin sah keinen Grund, wegen Alchan-Jurt ein Strafverfahren einzuleiten. Auch nachdem russische Einheiten im Stadtteil Aldi von Grosny am 5. Februar mindestens achtzig Einwohner ermordeten - unter Verdacht stehen Omon-Polizeieinheiten aus Sankt Petersburg und Rjasan -, geschah nichts. In Alchan-Jurt wartet Buro Altamirow, 71 Jahre alt, mit einer traditionellen Schaffellweste und ausdrucksvollen Augen hinter der Goldrandbrille das Urbild eines kaukasischen Dorfältesten, seit jenen Dezembertagen auf Gerechtigkeit. Zwei Tage, nachdem die Russen in Alchan-Jurt einrückten, wollte sein Sohn Aindi eine Kuh von der Weide holen. Kinder beobachten, wie russische Soldaten Aindi auf ihren Mannschaftswagen zerrten und davonfuhren. Tage später waren es wiederum Kinder, die in der Nähe des Dorfs erst Aindis Rumpf fanden und dann, dreißig Meter entfernt, seinen Kopf. "Als wir mit Mullah Wacha Muradow den Kopf untersuchten, entdeckten wir, dass die Soldaten erst ein Ohr abgeschnitten und ihn dann offenbar auf einen Weidepfahl gesteckt und mehrmals auf ihn geschossen hatten", erzählt Vater Altamirow stockend. "Der Mullah stellte vor der Beerdigung zwei Wachen neben die Leiche, damit unsere Frauen nicht sahen, was mit Aindi passiert war." Mit zitternden Fingern zeigt der Vater einen schon vergilbten Brief vom 7. Dezember 1999 an die Generalstaatsanwaltschaft in Moskau. Bis heute hat kein Ermittler den Weg zu Bura Altamirow gefunden.

Die Brutalität der Kriegsverbrechen und ihr Vertuschen haben System. Maura Reynolds von der Los Angeles Times schilderten mehrere dutzend Soldaten und Polizisten in einem am 17. September veröffentlichten Report, dass humanitäre Regeln wie die Genfer Konventionen in Tschetschenien keine Gültigkeit für sie haben und Militärstaatsanwälte und Aufsichtsoffiziere die Verbrechen aktiv vertuschen. Gefangene Rebellen würden immer getötet, oft so qualvoll wie möglich. Auch Kontraktnik Ilja P. (Nummer seiner Einheit: 42 839) berichtet der FR, er habe einen verletzten Rebellen und eine neben ihm liegende Frau erschossen. "Mein Kommandeur Dima K. forderte mich auf: ,Schieß! Oder du wirst nie jemanden erschießen können!' Also schloss ich die Augen und drückte ab." Doch auch Tschetschenen sind einer Rachetradition, dem Styd, verpflichtet: Ein Tschetschene, der den Tod eines Angehörigen nicht rächt, hört auf, ein Mann zu sein. Die Morde an ihren Landsleuten sichern den Rebellen steten Zustrom. "Das Gefühl der Rache ist für mich sehr präsent", sagt ein männlicher Verwandter von Leila Nurgalijewa auf der Beerdigung. "Ich würde alles geben, um ihren Mörder in die Hände zu bekommen und selbst umzubringen, wenn er nicht bestraft wird." Doch ein Strafverfahren ist unwahrscheinlich. Vor wenigen Tagen hat die russische Führung der Staatsanwaltschaft von Grosny die Zuständigkeit für Verfahren 12 185 entzogen.


Quellennachweis

http://www.fr-aktuell.de



 

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Stand: 01-03-01
Aktuelle Bearbeiter: Mehmet Sanlier (1999/2001)
Datei: tschetc/reports/rep1.htm